Projekt "Bellegueule"

Gefördert durch das GVL Stipendienprogramm 2021

Das Projekt „Bellegueule“ ist namentlich inspiriert durch den Roman „Das Ende von Eddy (Bellegueule)“ (Edouard Louis, 2014), das binnen weniger Jahre zum Klassiker der Arbeiterliteratur geworden ist. Louis reflektiert darin seine Erfahrungen und Prägungen aus armen und bildungsfernen Verhältnissen, und welche Dynamik diese auf seinem Weg hinein ins Leben als Teil der Pariser Intellektuellenelite entfachen. Der Roman ist, gemeinsam mit „Rückkehr nach Reims“ (Didier Eribon) und vielen Texten von Annie Ernaux („Die Jahre“, „Der Platz“) auch die literarische Rahmung der wiederbelebten Klassismusforschung, die sich mit der Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft befasst

In diesem Rechercheprojekt geht es mir darum, Musiker*innen mit Arbeiterhintergrund zu finden und für die Besonderheiten zu sensibilisieren, die mit dieser im kulturellem Feld eher selten anzutreffenden sozialen Herkunft einhergehen. Unter dieser Perspektive werden Stücke komponiert und aufgenommen sowie Aufführungen geplant, um diese lange Zeit und bis heute zentrale Dimension sozialer Ungleichheit zu thematisieren. Während Kultur oft und zurecht als Praxis verstanden wird, die Brücken baut, Grenzen überschreitet und zueinander finden lässt, geht es in diesem Projekt darum, diese Grenzen, diese unterschiedlichen Ufer, dieses „Auseinander“ überhaupt erst sichtbar zu machen.

Musik als soziale Praxis

Denn Musik ist ein Feld, in dem soziale Unterschiede sehr stark relevant sind, sowohl was Konsummuster angeht, wie insbesondere auch hinsichtlich der Zugangschancen, aktive Musiker*in zu werden, bzw. hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit eine bestimmte Musiker*innenlaufbahn einzuschlagen. Es geht dabei nicht nur um die musikalische Tätigkeit an sich, also die „Kompetenz bei der Bedienung“ eines Musikinstruments, sondern auch um Geschmacksfragen, um Lebensführung, schlichtweg um das Bestehen in einem einerseits sehr diversitätsbewussten Umfeld, das andererseits durch die Dominanz bildungsbürgerlicher Sichtweisen und Einstellung doch ein großes Diskriminierungspotential birgt. 

Was macht es mit einem, wenn drei von vier Bandkollegen Musiker als Eltern haben (oder kulturell stark interessierte Eltern), man selbst aber nicht? Welche eigenen Motivationslagen verfolgt man, wenn man davon ausgehen muss, dass man „das mit der Musik“ eben nicht in die Wiege gelegt bekommen hat? Warum macht man trotzdem Musik? Wie ist es, wenn für andere die finanziellen Unsicherheiten des Musikerdaseins entweder ein selbst gewähltes Abenteuer oder aber Familienschicksal sind, für einen selbst dies aber eine eigentlich beschneidende, teilweise mit Scham verbundene Normalität war und ist? Folgen die Laufbahnen von Musiker*innen mit Arbeiterhintergrund innerhalb der Musikerszene einer bestimmten Richtung?

 

Kultur und Diversität

Üblicherweise werden Diversitätsfragen primär rund um die beiden Merkmale Geschlecht/sexuelle Identität und Ethnizität/Migration herum diskutiert , während Angehörige „bildungsferner Schichten“ entweder als Publikumsressource thematisiert werden, oder im künstlerisch behandelten Stoff.

So gehört das „Erreichen bildungsferner Schichten“, um diese für den Besuch kultureller Aufführungen zu motivieren gehört zum Standardrepertoire vieler kultureller Initiativen, gerade im Bereich Stadtteilkultur/Subkultur. Als Problem werden finanzielle Hürden vermutet, weshalb man die Eintrittspreise gering hält oder ganz auf sie verzichtet.

Als zweites Problem werden Fragen des Marketings gesehen: Wo und wie wirbt man für Kultur, damit die Arbeiterschicht es nur ja mitbekommt. Insgeheim lautet die Hoffnung: Die arbeitenden Schichten würden kommen, wenn sie davon wüssten und es sich leisten können.

Sichtbarkeit sozialer Herkunft

Dieser heimliche Bildungschauvinismus in der Sichtweise auf Publikumsentwicklung steht in starkem Gegensatz zum Stand der Kulturförderung und -politik in anderen Themenfelder, z.B. im Bereich Geschlecht und Migration/Ethnizität. Unter diesen Gesichtspunkten nämlich hat sich die Identifikation des Publikums mit den Akteuren auf der Bühne als zentrales Kriterium für die Resonanz durchgesetzt. 

Sichtbar migrantische Schauspieler*innen, regelmäßig weiblich besetzte (Haupt)rollen sorgen im Bereich Theater/Film für Anziehungskraft, Interesse und Akzeptanz bei den entsprechenden Publikumsgruppen, nicht weniger die Behandlung von Thematiken, die diese Teile der Bevölkerung betrifft, die Inszenierung einschlägiger Sichtweisen auf diese Thematik. Erfolgreiche Frauen und Migranten haben sich im kulturellen Feld durchgesetzt, sind integriert und bleiben als Frauen und Migranten/Angehörige ethnischer Gruppe  sichtbar. Angehörige niedriger Schichten sind im Erfolgsfall assimiliert und fortan unsichtbar. 

 


Wie groß und subtil allerdings die Gefahr neuer, neoliberal-individualisierter Exklusionsmechanismen durch "erfolgreiche Integration" im Bereich Gender/Migration ist, zeigt Steffen Just (2021)

"[...] Damit wälzt der Neoliberalismus gesellschaftliche Strukturprobleme auf einzelne Individuen und Bevölkerungsgruppen ab. Die heutige Popmusikkultur spielt in diese Verhältnisse hinein. Sie präsentiert einerseits Beispiele erfolgreicher nicht-weißer und nicht-hetero-cis-männlicher Vorzeigesubjekte, die den Beweis dafür liefern sollen, dass repressive Strukturen nicht mehr existieren, und andererseits solche, die zeigen sollen, wo das eigentliche Problem liegt: im ungenügend performenden Prekariat. In Taylor Swifts Beispiel werden einfältig und unkultiviert gezeichnete Landbewohner*innen als Stereotyp für eine Bevölkerungsgruppe, also als »Rednecks« aufgebaut, die für das Fortbestehen von Homo-/Transphobie in die Verantwortung genommen werden. In ihrer stereotypen Überzeichnung werden sie zu verachtenswerten oder zu belächelnden Subjekten des Rückstandes erklärt, die den Anschluss an die Anforderungen der Gegenwart verpasst haben. Beyoncés Variante eines Black feminism wiederum weist den Erfolg Schwarzer Frauen als individualistischen Kampf aus. Als unabhängige postfeministische Frau hat sie sich von anderen Schwarzen Frauen, die entweder völlig invisibilisiert oder nur als orchestrierende Backup-Ensembles eingesetzt werden, abgesetzt.“

http://www.aspm-samples.de/Samples19/Just.pdf

Auch für das Merkmal "bildungsferne soziale Herkunft" lassen sich ähnliche Beispiele finden:

So hat es der Dirigent Ivor Bolton durch "Courage" vom Kind eines Eisenbahnschaffners und einer Näherin aus Lancashire bis zum Chefdirigat an der Salzburger Opernhaus gebracht.
"Nicht selbst verständlich für ein Arbeiterkind"

https://www.srf.ch/kultur/musik/weltklasse-sommerkonzerte/wie-es-das-arbeiterkind-ivor-bolton-ans-dirigentenpult-schaffte

Veröffentlichungen und Veranstaltungen im Rahmen des Projekts

Innerhalb des Projekts „Bellegueule“ versuche ich mich diesem Assimilationsprozess unter den oben geschilderten Gesichtspunkten anzunähern. Dazu habe ich mich mit einigen Musiker*innen und kulturellen Akteuren mit Arbeiterhintergrund zusammengesetzt und biographische Interviews geführt. Innerhalb dieser Interviews habe ich versucht eine Sensibilität für das Thema „soziale Herkunft“ zu entwickeln. Welche Assoziationen weckt dies, welche Episoden seines Werdegangs werden dadurch erinnert, welche musikalischen Vorbilder werden dadurch wieder präsent? Verändert dies die Herangehensweise ans Komponieren und Musizieren? „Visitors only“ ist so entstanden, weitere Stücke aus dieser Zusammenarbeit werden noch veröffentlicht.  Ein Konzert ist für Ende des Jahres in Planung.

Ein zweites Projekt, dass dadurch angestoßen ist, heißt „Trio Bellegueule“: Hier versuche ich mich, gemeinsam mit zwei anderen Musikern, dem Gypsy Swing auf neue Art und Weise zu präsentierten. Die Idee dazu kam in Zusammenarbeit mit Lize Alpaslan, Programmplanerin im Kulturzentrum Ackermannbogen e.V., ebenfalls mit Migrations- und Arbeiterhintergrund. Mit ihr habe ich die Programmplanung im Ackermannbogen diskutiert, in der das Thema „bildungsferne Schichten“ bisher auf klassische Art thematisiert wurde (s.o.). Wir wollen nun mit  niedrigschwelligen Gypsy Swing Auftritten und Workshops, die weniger konzertant als Rahmenprogramm sind, versuchen, ein neues Publikum zu erreichen. 

"Visitors only"

Das Stück entstand gemeinsam mit dem Schlagzeuger und Tontechniker Erdem Engin, aufgewachsen in München-Neuperlach in Arbeiterverhältnissen. Uns ging es bei dem Stück um die Verarbeitung unserer Eindrücke aus Konzerten im Bereich Jazzmusik, die wir  besucht haben. Welche Assoziationen hatten wir, mit welchen Künstler*innen oder Bands aus unserer musikalischen Sozialisation, wie spielen wir sowas, wenn wir es nicht im Kontext eines Jazz-Recordings machen, nicht im Beisein gelernter, stilsicherer Musiker*innen? 

Trio Bellegueule

Ich und viele meiner Mitmusiker aus meinen Projekten, stoßen  im akademischen, modernen oder arrivierten Jazz-Kontexten immer wieder auf Vorbehalte gegenüber Gypsy Swing Projekten: Zu „einfach“, d.h. sowohl rhytmisch als auch harmonisch zu unkomplex, zu folkloristisch, nicht innovativ genug, nur über „Virtuosität“ (Geschwindigkeit) punktend. In deutschen Ausbildungs- und Hochschulkontexten kommt diese Musik schlichtweg nicht vor und in den Programmplanungen der arrivierten Jazzclubs spielt Gypsy Swing in Deutschland nur eine sehr kleine Rolle.

Gleichzeitig gibt es ein großes Bewusstsein für die Tradition dieser Musik, die Wichtigkeit dieser Musik für die Sinti-Gemeinde in Europa, weshalb sich in diesem Musikstil im Vergleich zu etablierteren Jazzformen relativ viele Autodidakten und semi-professionelle Musiker finden, gleich ob es Sinti sind oder nicht. Sowohl der eingängige Sound, als auch die personelle Besetzung machen diese Musik sehr gut geeignet um in nicht-kulturaffinen Publikumskreisen Gehör zu finden. 

Das Trio Bellegueule wird in verschiedenen Kulturzentren/Mittelschulen diese Musik vorstellen und dort mit Workshops gezielt Personen ansprechen, die nicht aus kulturaffinen Elternhäusern kommen.

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